Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht. (Vaclav Havel)
Im November 2017 spürte ich den deutlichen Impuls, mir einen lang gehegten Wunsch zu erfüllen und mit dem Vortrag "65 Mal über den Berg - Aussteigen für Anfänger" eine Reihe von „Werkstattgesprächen“ zu eröffnen. Ich hatte bereits verschiedene Ideen, Themen und Referenten, die ich gern in meine Werkstatt einladen wollte. Es gab aber noch keinen konkreten Termin, auch mein eigener Beitrag existierte zu diesem Zeitpunkt ausschließlich in meinem Kopf. Doch schließlich gab es diesen Impuls, diese innere Stimme, die mir unmissverständlich sagte: Tue es - jetzt!
Und ohne länger darüber nachzudenken (was ich sonst oft und gern tue), stellte ich in wenigen Tagen eine Präsentation mit etwa 70 Seiten zusammen. Erst ganz kurz vor dem angesetzten Termin versandte ich die Einladungen an einige engere Freunde und Bekannte. Ich schrieb: "Die Idee zu den „Werkstattgesprächen“ reift in mir nun schon zwei Jahre. Zeit, das Kind zur Welt zu bringen! Ich werde einfach mit meiner eigenen 'Geschichte' beginnen und euch ein paar Bilder dazu zeigen. Im Anschluss daran besteht die Möglichkeit, miteinander ins Gespräch zu kommen."
Die Werkstatt wurde voll. Ich war nervös, hatte zu wenig Sitzplätze und bemerkte, dass ein Kabel für den Beamer fehlte. Kein Problem - jedenfalls nicht für meine Gäste, die einfach auf den beiden Hobelbänken Platz nahmen und umgehend ein Ersatzkabel organisierten. Es wurde dann ein ausgesprochen lebendiger und anregender Abend, der mit vielen Fragen, persönlichen Antworten und tiefgehenden Gesprächen ausklang. Erst am Folgetag wurde mir richtig bewusst, wie wichtig dieser Schritt für mich war. Mich auf diese Weise zu zeigen, meine jahrelange Krise, meinen Berufsausstieg und Neuanfang im Zeitraffer noch einmal zu durchleben, das war und ist kein Spaziergang. Doch es ist eine spannende und eine hoffnungsvolle Geschichte, und es macht Sinn, sie zu erzählen! Was ich lange Zeit als Basis meiner Existenz und Identität ansah, hat sich am Ende nicht als tragfähig erwiesen. In nur wenigen Monaten hat sich beinahe alles verändert in meinem Leben. Da lohnt es sich doch einmal zu reflektieren, was da eigentlich wann und warum ins Fließen gekommen ist, wohin es führt, wie es sich anfühlt, wie es weitergeht und was am Ende daraus zu lernen ist.
Während meiner langen Wanderung hatte ich unter anderem viele Fotos von wunderschönen, uralten Türen gemacht. Einige davon hatte ich in dem Vortrag gezeigt und davon berichtet, dass mich diese Durchgänge immer wieder seltsam berührten. Als hätten sie mir etwas mitzuteilen. Massive Türen, vielfach geflickt, mit handgeschmiedeten Beschlägen aus napoleonischer Zeit, oft mit dicken Vorhängeschlössern, manchmal mit einer kleinen Öffnung für die Hauskatze. Eine dieser Türen befand sich an einem verfallenen, mittelalterlichen Haus bzw. einer dicken Mauer, genau genommen dem einzigen Teil, der von diesem Haus noch vorhanden war. Durch einen kleinen Spalt dieser im Grunde nun nutzlos gewordenen Tür fiel ein schmaler Lichtstrahl auf meinen Weg. Unwillkürlich musste ich an Leonard Cohen denken, den ich zu dieser Zeit oft hörte, und an seine Zeilen
"Ring the bells that still can ring - forget your perfect offering. There is a crack, a crack in everything - that's how the light gets in"
Wie ich das für mich deute: Zeige dich und steh' zu deinen Gefühlen. Vergiss deinen Perfektionismus. Es gibt allerhand Risse im Leben, in dir, in der Welt. Das ist so, und es ist ganz in Ordnung so. Sei einfach du selbst, geh deinen Weg, der Rest findet sich. Dazu fällt mir noch ein Satz aus dem Film Die stille Revolution ein (ein wunderbares Beispiel eines tiefgreifenden Kulturwandels in der Arbeitswelt): "Wir müssen aufhören, zu glänzen, und anfangen, zu leuchten".
An diesem Abend schien mir das ganz gut gelungen zu sein - ich war jederfalls sehr im Reinen mit mir und fühlte mich trotz aller Pannen gut aufgehoben im Kreis meiner Freunde. Ermutigt durch diese Erfahrung, bot ich drei Wochen später einen zweiten Termin "65 Mal über den Berg" in meiner Werkstatt an. Kaum waren die Einladungen versandt, gingen schon die ersten Anmeldungen ein. Wenige Tage später stand fest, dass der Termin nicht mehr in meiner Werkstatt stattfinden konnte. Umgehend wurde mir ein großer, schöner Gemeinschaftsraum in der Nachbarschaft angeboten, in dem sich schließlich 33 Besucher einfanden. Noch einmal berichtete ich von meiner Arbeit, meiner Gesundheitskrise und meiner unfassbaren "Selbstheilung" allein in der Wildnis. Noch einmal stellte ich mich vielen Fragen, die sich aus dem Vortrag ergaben. Und die Rückmeldungen waren erneut so positiv, dass für mich klar war, das mache ich weiter.
Keine Frage: Mein Reisebericht und die Kombination der Themen "Krise", "Ausstieg" und "Weitwanderung" scheinen aktuell einen Nerv zu treffen. Möglicherweise wird sogar das überaus schambehaftete Thema "Depression" irgendwann noch einmal gesellschaftsfähig. Dazu würde ich gern den einen oder anderen persönlichen Beitrag leisten - und die Menschen daran erinnern, dass ihre (vermeintlich) persönlichen Krisen und Krankheiten nicht nur individuelle, sondern auch strukturelle und gesellschaftliche Ursachen haben. Und auch wenn wir uns oft ohnmächtig fühlen und es so scheint, als hätten wir keine Chance gegen "das System", das uns krank macht und in den letzten Jahren immer absurdere Kapriolen schlägt: Wir können etwas tun! Wir können unsere Einstellung verändern. Wir können lernen, in jedem Lebensalter. Zum Beispiel, etwas menschlicher mit uns selber umgehen, wenn es sonst niemand tut. Um es mit Viktor Frankl zu sagen: "Manchmal ist das Symptom das einzig Gesunde in einem falsch geführten Leben." Und "Du musst nicht alles glauben, was du denkst".
Deshalb erlebe ich es als etwas zutiefst Sinnvolles und Schönes, mit meiner Erzählung Menschen zu berühren, die Ähnliches durchmachen, in Schwierigkeiten stecken und vielleicht nicht wissen, wie es für sie weiter geht. Wer weiß das schon! Wir leben in herausfordernden Zeiten. Wir alle brauchen Gemeinschaft, Unterstützung, Inspiration und Mut - ganz besonders in Phasen des Umbruchs und Neubeginns. Das sind unsere kreativsten Momente, in denen ganz neu gedacht und gefühlt werden darf. Da gilt es, sich auf seine eigenen Werte zu besinnen, dem Leben und seinem inneren Kompass zu vertrauen, aufrecht und mutig seinen eigenen Weg zu gehen. Einen Schritt nach dem anderen. Wohin auch immer die Reise geht, was auch immer die Anderen dazu sagen.